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Datum: 05.07.2022

Die Säkularisierung ist in Europa seit langem im Gange, in verschiedenen Formen und auf verschiedenen Ebenen. Heutzutage bedeutet der Begriff in der Regel den Rückgang der religiösen Praxis und der Kirchenmitgliedschaft. Wenn eine Weltanschauung oder Ideologie keinen Platz für ein transzendentes göttliches Wesen hat, spricht man von „Säkularismus“. Lange Zeit blieb die säkularisierte Bevölkerung indirekt mit dem christlichen Glauben verbunden, nämlich im kulturellen Bereich. Sie hatten ähnliche soziale Normen und Werte wie religiöse Menschen und hielten sich mehr oder weniger an die Zehn Gebote. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie diese in säkularen Begriffen ausdrückten, die sich auf die menschliche Vernunft und auf das stützten, was sie als „natürlich“ bezeichneten.

Seit den 1960er Jahren ist jedoch eine allmähliche Abkehr von den traditionellen, mit dem Christentum verbundenen Normen und Werten zu beobachten. An ihre Stelle sind „neue“ kulturelle Werte getreten, die nichts mit religiösen Überzeugungen zu tun haben, z.B. in den Bereichen Ehe und Scheidung, Sexualität, Familie und Erziehung, Beginn und Ende des Lebens. Dies wird als „Kultureller Liberalismus“ bezeichnet. Seine Anhänger gefallen sich darin, sich als progressiv zu sehen – was impliziert, dass sie den historischen „Fortschritt“ anführen im Gegensatz zu den so genannten „Konservativen“, die hinterherhinken und „noch“ an traditionellen Normen und Werten festhalten. Der kulturelle Liberalismus entstand im Gefolge der gesellschaftspolitischen und sexuellen „Revolution“ der 1960er Jahre, als viele junge Menschen der Babyboom-Generation begannen, die Idee der Freiheit auf den Bereich des Lebensstils auszudehnen. Das Wendejahr war 1968 – die Studentenrevolte in Paris und anderswo.

Es entstand ein neues Paradigma, dessen Ideal darin bestand, ein „authentisches“ Leben zu führen. Die Kirche, das soziale Umfeld und der Staat sollten „mir“ die Freiheit geben, so zu leben und zu handeln, wie „ich“ es fühle und wünsche. Daher auch der ständige Druck zur „Liberalisierung“ der Gesetzgebung in allen möglichen ethischen Fragen. Die Anhänger des neuen Paradigmas sprechen sich jedoch entschieden gegen pädophile Handlungen und sexuelle Gewalt aus, weil es sich dabei um die Herrschaft einer stärkeren Person über eine schwächere handelt. Die Menschen beanspruchen das Recht, von niemandem beherrscht zu werden, insbesondere in den Bereichen der individuellen Lebensführung und Moral.

Der kulturelle Liberalismus ist von Natur aus relativistisch. Er besagt, dass sich Kulturen, persönliche Meinungen und Normen, ja sogar grundlegende Werte im Laufe der Zeit entwickeln, wenn sich die Gesellschaft „weiterentwickelt“. Was gestern noch inakzeptabel war, kann heute akzeptabel sein. Ihre Vertreter gehen davon aus, dass der „Fortschritt“ in diesen Bereichen zu mehr Freiheit und menschlicher Entfaltung führe. Doch während sich der kulturelle Liberalismus im Westen Europas ausbreitet, stößt er im Osten auf mehr Widerstand – was uns ermutigt, dass der kulturelle Liberalismus vielleicht doch nicht die unvermeidliche Zukunft unserer Gesellschaft ist.

Wir als Christen sind herausgefordert, den in der Bibel niedergelegten Geboten Gottes und den Grundsätzen, die die Kirche seit jeher gelehrt hat, treu zu bleiben. Inzwischen haben wir auch gute Argumente, um die Schwachstellen des kulturellen Liberalismus kritisch aufzudecken, indem wir die Grundstrukturen des Lebens in Ehe, Familie und Elternschaft sowie die Würde des menschlichen Lebens in allen seinen Phasen verteidigen. Haben wir doch die enorme Kraft des Gebets: dass Gott die Herzen und den Verstand unserer europäischen Mitbürger berührt, die von diesem „neuen“ Paradigma gefangen wurden. Und wir bitten, dass Gott uns Klarheit im Denken schenkt und uns hilft, in der Öffentlichkeit für die Wahrheit einzutreten. Dort werden wir Verbündete unter den nichtreligiösen Menschen finden, denn Gott hat bestimmte Prinzipien in das moralische Bewusstsein aller Menschen geschrieben. Diese „gemeinsame Gnade“ ist unsere gemeinsame Basis. Sie ist immer noch wirksam, trotz der Bemühungen des kulturellen Liberalismus, sie auszulöschen oder zu verändern. Am Ende wird sich die moralische Wahrheit durchsetzen.

1. Betet für alle Kirchen- und Jugendleiter, die Gläubigen in ethischen Fragen anzuleiten und für die Theologen, die die künftige Leitergeneration der Kirchen in aktuellen ethischen Fragen unterrichten.

2. Für Christen in der Politik und in zivilgesellschaftlichen Organisationen, die für ein christliches Verständnis von Normen und Werten in der Gesellschaft eintreten.

3. Mögen wir alle den Mut haben, der biblischen Offenbarung treu zu bleiben und mögen wir die richtigen Worte finden, um säkularisierten Menschen zu erklären, wofür wir stehen.

// Evert Van de Poll

Der Autor (geb. 1952) lebt und arbeitet als Pfarrer und Musiker in Frankreich. Er ist Professor für Religionswissenschaft und Missionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Leuven (B) und hält auch Vorträge an anderen Fakultäten und auf Konferenzen. Sein jüngstes Buch heißt „Christlicher Glaube und die Entstehung Europas, gestern und heute“ (Nürnberg, VTR, 2021).

Dieser Beitrag ist die Titelstory im Allianzspiegel 139