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Datum: 06.09.2022

Mit seinem neuen Buch „Charismatisch, evangelikal und katholisch: Eine theologische Unterscheidung der Geister“ legt Willibald Sandler, römisch-katholischer Theologe und Professor für Dogmatik an der Universität Innsbruck ein bemerkenswertes Buch vor. Denn Sandler, der zugleich auch das Gebetshaus „Die Weide“ in Innsbruck leitet, beschäftigt sich mit solchen Gruppen in der römisch-katholischen Kirche, die zum einen charismatisch und evangelikal ausgerichtet sind, sich aber gleichzeitig auch als bewusst katholisch verstehen.

Im ersten Teil stellt Sandler eingangs die Herausforderung dieser „CEK“-Bewegungen (charismatisch, evangelikal und katholisch) und nennt sein Anliegen: „Potenziale und auch Gefährdungen von charismatischen und evangelikalen Bewegungen sichtbar [zu] machen: für die Menschen innerhalb der Bewegungen und für die katholische Kirche, wenn sie sich auf die Bewegungen einlässt.“ (S. 35)  

Zentral ist für Sandler eine von ihm entwickelte Theologie des Kairos, die eine Unterscheidung und Bewertung von Erneuerungsbewegungen ermöglicht. Dies ist „eine Theologie von Gnadenereignissen – biblisch ‚Kairos‘ oder im Plural ‚Kairoi‘ genannt – die sich im Leben von Menschen, aber auch kollektiv in Gruppen, Gemeinden, Bewegungen, Kirchen, ja ganzen Epochen zeigt. Epochale Gnadenkairoi sind ‚Zeichen der Zeit‘, die es zu beachten und zu nutzen gilt. In besonderen Zeiten ist auch Außerordentliches möglich, wie Wunder […].“ S. 36). Gleichzeitig merkt Sandler an: „Ein Hauptfehler von Erneuerungsbewegungen bestand seit jeher in einem überzogenen Optimismus. Als ob ein Kairos ewig währen würde. […] Erneuerungsbewegungen neigen zu einer überschwänglichem, manchmal sogar triumphalen ‚Theologie der Gegenwart Gottes‘. ‚Mit meinem Gott überspringe ich Mauern‘ (Ps. 18,30) – aber jederzeit?“ (S. 37). Diese „Kairos-Theologie der Unterscheidung“ ist bei Sandler stark biblisch geprägt und aus geschichtlichen Zusammenhängen und Beobachtungen erwachsen. Deswegen stellt der Autor in den Abschnitten II bis IV des Buches historische Entwicklungen in den Vordergrund. 

Im Zweiten Teil geht der Autor ausführlich auf Ursprung und Bedeutung von „evangelikal“ ein (S. 43-100) und stellt u. a. den Pietismus, die Herrnhuter Brüdergemeinde, John Wesley und die Anfänge des Methodismus, die Erweckungs- und Heiligungsbewegung sowie den nordamerikanischen Fundamentalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausführlich vor. Der dritte Teil widmet sich dem Schwerpunkt „charismatisch“ (s. 101-178). Auf eine biblische Charismenlehre folgt eine Darstellung der Geschichte der Pfingstbewegung – international und in Deutschland –, der charismatischen Bewegung der 1960er/1970er Jahre sowie der „dritten Welle des Heiligen Geistes“ ab den 1980er Jahren. Hilfreich erweist sich hier vor allem, dass Sandler auch ausführlich auf die jeweiligen theologischen Wurzeln und Hintergründe eingeht. Der vierte Hauptteil wendet sich der katholischen Seite zu, wobei der Autor erklärt, was katholisch für ihn konkret bedeutet. Hier hebt er das Sakramentale als Wesensmerkmal hervor. Ein Überblick über die Charismatische Erneuerung in der katholischen Kirche schließt sich an, bevor auch das Gebetshaus Augsburg sowie die Loretto-Bewegung als zwei Beispiele von CEK-Bewegungen vorgestellt werden und manche Entwicklungen auch durchaus kritisch hinterfragt werden. 

Im fünften Abschnitt findet sich das zentrale Kapitel des Buches: eine ausführliche kritische Würdigung des „Mission Manifest“ (S. 219-304) aus römisch-katholischer Sicht. „Mission Manifest“ erschien vor einigen Jahren und wurde maßgeblich von Johannes Hartl initiiert, aber auch österreichische katholische Theologen schrieben einzelne Kapitel zu den zehn Thesen des Manifestes. Jede einzelne dieser zehn Thesen wird von Sandler vorgestellt, diskutiert und theologisch ausgewertet und bewertet. Der Autor setzt sich dabei auch mit der Kritik aus dem katholisch-universitären Raum konsequent und grundlegend auseinander. Anders als in vieler bisher geäußerter Kritik geht es Sandler jedoch „hier nicht um eine verurteilende Festschreibung von Unausgegorenem […], sondern um Potenziale und Gefahren, also mit einer Offenheit für die Möglichkeit, dass problematische Sichtweisen verbessert werden.“ (S. 41). Ein Zitat mag die Ausgewogenheit des Autors hinsichtlich dieser geistlichen Erneuerungsbewegungen verdeutlichen: „Eine Theologie, die sich von Christus den Weg vorgeben lässt, darf solche Bewegungen nicht bekämpfen und nicht fallen lassen, sondern muss einen weiten und mitunter beschwerlichen Weg mit ihnen gehen. Und umgekehrt: sie mit den TheologInnen.“ (S. 237).  

Im sechsten und letzten Kapitel legt Sandler abschließend einige Ergebnisse und Folgerungen vor und stellt konkret Potenziale und Gefahren von evangelikalen, charismatischen und pfingstlichen Überzeugungen in den Raum.  

Was bleibt als Fazit nach der Lektüre dieses Buches? Ein Mehrfaches: Selten habe ich ein Buch eines römisch-katholischen Theologen in der Hand gehabt, dass sich durch eine so gründliche Sachkenntnis der evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Geschichte und Theologie auszeichnet, wie es im vorliegenden Buch deutlich zutage tritt. Zugleich analysiert und kritisiert Sandler als Katholik (und damit als Außenstehender) eine evangelikale bzw. charismatische Theologie und Glaubenspraxis mit großer Klarheit – hier würde es auch evangelikalen und charismatischen Protestanten guttun, die vielfach durchaus berechtigte Kritik nicht einfach zu übergehen, sondern ernst zu nehmen und eigene Positionen theologisch zu reflektieren. Wohltuend dabei ist, dass der Autor das Kind nicht mit dem Bade ausschütte, sondern viele wichtige Impulse aus dem evangelikal-charismatischen Bereich, die Eingang in die CEK-Bewegungen gefunden haben, aufnimmt und wertschätzt und sie als wichtige und notwendige Bereicherung auch für die katholische Kirche wahrnimmt und einordnet.  

Auch wenn ich dieses Buch als protestantischer Theologe gelesen habe und gewissen Prämissen und Schlussfolgerungen des katholischen Theologenkollegen nicht zustimmen kann, habe ich das Buch mit großem Gewinn gelesen und würde mir wünschen, dass es nicht nur von Christen aus den CEK-Bewegungen, sondern auch von „CEP“ Anhängern (charismatisch-evangelikale Protestanten) gelesen wird. Denn: Dialog ist nur dort möglich, wo wir unsere eigenen Positionen kennen, sie vertreten und keine Angst vor der Begegnung, dem Austausch aber auch den Auseinandersetzungen mit anderen haben müssen. 

// Für Sie gelesen: Dr. Frank Hinkelmann 

Willibald Sandler 
Charismatisch, evangelikal und katholisch 
Eine theologische Unterscheidung der Geister 
Gb. 360 S. Herder, 2021. € 28,80 ISBN 978-3-451-38703-6